Von Mensch zu Mensch im Dialog
Text: Sarah Frieder
Nur zwölf Minuten nach dem Aufprall flog sie mit der Rega ins Berner Inselspital. Der Ski hatte sie an der linken Kopfseite getroffen, Diagnose: offener Schädelbasisbruch. 48 Stunden lang ging es nur um ihr Leben. «In diesem Moment war ich bereit zu gehen», erinnert sie sich. «Ich konnte mich kaum bewegen, fiel immer wieder ins Koma. Mein Geburtsdatum war mir entfallen, und selbst meinen Namen konnte ich nicht aussprechen.» Sie habe Gegenstände wie Tisch und Stuhl in der Luft schweben gesehen, sich ständig übergeben müssen. «Mein Körper, mein Kopf; nichts funktionierte mehr», erzählt sie.
Valeria Fragola behält trotz des Schicksalsschlags ihre positive Ausstrahlung.
Valeria Fragola sitzt strahlend da. Man würde kaum vermuten, was sie hinter sich hat. Ihre positive Ausstrahlung ist ansteckend, ihr Lachen warm und ehrlich. «Gerade das kann aber schwierig sein», erklärt sie. «Viele sehen mir nicht an, dass ich beeinträchtigt bin. Sie verstehen nicht, dass ich nicht mehr die Gleiche bin wie früher.» Manche aus ihrem Umfeld seien sogar neidisch auf ihre vermeintlich «freie Zeit», ohne zu wissen, wie viel Therapie, Pausen und Erschöpfung dahinterstecken. «Das verletzt. Es fordert viel Verständnis und macht manchmal einsam.»
Die grösste tägliche Herausforderung, sagt sie, sei, das neue «Ich» zu akzeptieren und loszulassen, was war. «Mein früheres Leben existiert nicht mehr, und das ist schmerzhaft. Ich musste viele kleine und grosse Verluste hinnehmen.» Dinge, die früher selbstverständlich waren, erfordern heute Planung und Energie: ein Cafébesuch, ein längeres Gespräch, den richtigen Zug zu finden oder den Tagesablauf zu strukturieren. «Alles muss in mein Pausenmanagement passen.» Lesen, einst ihre Leidenschaft, gehe nur noch in kurzen Etappen. «An guten Tagen schaffe ich 20 Minuten, am nächsten weiss ich meist kaum noch, was ich gelesen habe.»
Früher war sie Lehrerin an einer Sekundarschule in Bischofszell (TG), unterrichtete Sprachen, Geschichte und Geografie. Sie reiste viel, war sportlich aktiv und für andere da. «All das ist heute vorbei», sagt sie leise. Nach dem Unfall habe sie versucht, wieder beruflich Fuss zu fassen. «Ein Nachbarsjunge bat mich um Hilfe beim Französisch. Ich erklärte ihm dann einfache Regeln völlig falsch. Da musste ich mir eingestehen: Es geht nicht mehr.» Wenn sie müde sei, spreche sie ihre Fremdsprachen zwar weiterhin, doch Freunde verstünden oft kein Wort. «Das ist bitter und macht traurig.»
In der Rehaklinik Zihlschlacht ist es ruhiger als in städtischen Gebieten und daher optimal für die Rehabilitation.))
Auch Reize und Geräusche verarbeitet ihr Gehirn anders. «Ich kann keine Hintergrundgeräusche mehr ausblenden, alles ist gleich laut. In einer Stadt oder in einem Restaurant kann mich das völlig überfordern. Dann blockiert mein Kopf, und ich bin nicht mehr handlungsfähig.» In solchen Momenten könne sie nicht einmal mehr das Handy bedienen.
Fünf Wochen nach dem Unfall wurde sie aus dem Akutspital in die Rehaklinik Zihlschlacht verlegt. «Das war das Beste, was mir passieren konnte», sagt sie. Dort lernte sie, wieder selbst Treppen zu steigen und ihre Feinmotorik zurückzugewinnen. Noch wichtiger aber waren die Begegnungen mit anderen Betroffenen. «Wir haben uns gegenseitig verstanden, motiviert, getragen und auch einfach miteinander gelacht. Diese Zeit hat uns zu einer Familie zusammengeschweisst.»
Valeria Fragola konnte sich in der Rehaklinik Zihlschlacht mit anderen Betroffenen austauschen, was ihr sehr geholfen hatte.
Das Wissen des interdisziplinären Teams half sehr gut weiter.
Bis heute pflegen sie engen Kontakt. Die Gruppe nennt sich «Akazia-Clan», tauscht sich regelmässig per WhatsApp aus und trifft sich in der Klinik zu ambulanten Gruppentherapien, etwa zum wöchentlichen Qigong. Diese chinesische Bewegungs- und Achtsamkeitspraxis gibt Valeria Kraft und hilft ihr, sich mit ihrem neuen Selbst zu verbinden. «Ohne die Hingabe und das Herzblut der Therapeutinnen und Therapeuten wäre ich heute nicht da, wo ich bin», sagt sie dankbar.
Trotz allem sieht Valeria Fragola ihr Leben heute positiv. In Workshops der Rehaklinik Zihlschlacht erzählt sie anderen Patientinnen und Patienten von ihren Erfahrungen. «Natürlich gäbe es genug Gründe zum Klagen oder um sich als Opfer zu fühlen. Aber ich habe gelernt, loszulassen und das Neue anzunehmen.» Ihr starker Glaube habe sie durch die schwersten Zeiten getragen. «Ich habe Gott nie verloren. Dass ich noch hier bin, verdanke ich ihm. Und daraus erwächst für mich Verantwortung.»